Kaum angekommen in Italien, richte ich meine Aufmerksamkeit ganz automatisch auf die alten Menschen die in den Straßen unterwegs sind, auf ihren Balkonen sitzen oder vor kleinen Geschäften plaudern.
Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Details in den Gemäuern, die Fliesen in den Hausfluren und auf die Menschen, die uralten Traditionen bis heute Raum geben - dafür nehmen sie sich Zeit.
Jedes Mal, wenn ich Bettlaken, Handtücher oder andere Kleidungsstücke sehe, die von Balkonen herab oder Mitten auf dem Land im Wind wehen, überkommt mich ein Schauer der Verzauberung. Die positiven Emotionen, die ich mit scheinbar bedeutungslosen Kleinigkeiten verbinde, wurden in den letzten Jahren immer stärker und ich fing an, meine Verzauberung zu hinterfragen.
Bilder sind Botschafter unseres Unterbewusstseins. Über die Bildsprache können wir unbewusste innere Bedürfnisse aufdecken.
Ich verbinde mit all diesen Bildern und Eindrücken vor allem: Menschlichkeit.
Das mag jetzt vielleicht seltsam klingen, dass ich Handtücher im Wind mit Menschlichkeit verbinde. Vor allem aber geht es mir um einen menschlicheren Rhythmus und Einfachheit. Es geht mir um mehr YIN Qualität.
Ich selbst merke gerade wieder, wie schwer es mir fällt, runterzukommen, anzukommen. Mein Verstand folgt noch immer dem Rhythmus des normalen Alltages, will möglichst viel in kurzer Zeit sehen und unternehmen. Mittwochs mache ich mir schon sorgen, dass der kurze Urlaub in 3 Tagen wieder vorbei ist und die Mittagsruhe kann ich noch gar nicht richtig genießen. Und das, obwohl ich schon zu den Menschen gehöre, die Langsamkeit und Achtsamkeit im Alltag zelebrieren.
Eigentlich war ich überzeugt, dass ich nicht in diesem Performancemodus stecke und mich ganz gut im Griff habe. Vielleicht (sogar ganz sicher) stecken wir aber alle mehr oder weniger in diesem Modus. Möglicherweise wollen wir es nur nicht wahrhaben.
Obwohl ein gemächliches Tempo, Beständigkeit und Einfachheit wichtige Faktoren für ein menschliches Leben und unsere Gesundheit sind, schaffen es nur wenige, diesen wichtigen Dingen wirklich Raum zu geben. Wir sind längst an dem Punkt angekommen, an dem mehr überlebt als gelebt wird.
Die Qualität der Zeit ist eine völlig andere, wenn wir sie vollstopfen mit Terminen, Erledigungen, Zielen, Aufgaben usw. Man kann sagen:
Je mehr wir in einen begrenzten Zeitraum mit Dingen stopfen,
desto mehr verliert unsere Zeit an Qualität.
Kein Wunder auch, dass ich mich nach 15 Minuten auf Social Media fühle wie ein alter Schwamm, vollgesaugt mit Informationen, die meine Welt gar nicht braucht. 15 Minuten wertvolle Zeit, vollgestopft mit Impulsen, Reizen und Eindrücken, die mein Gehirn gar nicht so schnell verarbeiten kann. Ich brauche eine Pause.
Ich fing also an, meine Verzauberung zu hinterfragen. Warum freue ich mich über Bettlaken, die im Wind wehen? Warum beobachte ich alte Menschen, die gerade genau das Gleiche tun (beobachten)? Warum fotografiere ich einen einsamen Stuhl im Schatten der Olivenbäume?
Unterbewusst verbinde ich diese Eindrücke mit dem, wonach sich mein innerster Kern sehnt:
Langsamkeit, Einfachheit, Wertschätzung.
Die Bettlaken würden im Trockner wahrscheinlicher schneller fertig werden, aber wozu immer schneller fertig sein? Wieso den Dingen nicht einfach Zeit geben?
Und die Oma, die "Beobachten" und "Ausruhen" zu ihren täglichen To-do's zählt oder der Opa, für den "Absichtsloses Flanieren" und "Mit 4 Kollegen auf eine Parkbank quetschen (mit Sonnenbrille)" zu den wichtigsten Tagesplänen gehören, verzaubern mich mit ihrer Weisheit, das Leben leichter zu nehmen. Einfacher. Und damit dem echten Leben viel mehr Wertschätzung entgegenzubringen, als wir es in unserem städtischen Alltag tun, wo wir viele grundlegende Dinge übersehen.
Wenn Yang für Anspannung, Dynamik und Geschwindigkeit steht, dann leben wir einer Yang geprägten Zeit. Wir brauchen einen Gegenpol. Ein Ausgleich, mehr Yin Qualität, mehr Einfachheit, Langsamkeit, Kreativität, mehr Tiefe - bedarf einer bewussten Entscheidung.
Und weil wir es gewohnt sind, eher Gas zu geben, voranzukommen, zu wachsen, unsere Wohnungen mit schönen Dingen und unsere Kleiderschränke mit möglichst vielen Teilen vollzustopfen, die uns an schlechten Tagen besser fühlen lassen, liegt die Entscheidung für mehr Menschlichkeit möglicherweise außerhalb unserer Komfortzone. Allein das ist doch verrückt.
Zurück zu den Bildern. Ich fotografiere also keine Bettlaken im Wind und alte Menschen in kleinen Gassen, einfach nur der Schönheit wegen (was mich ja beruhigt) - sondern, weil diese Eindrücke starke positive Gefühle in mir auslösen, die auf meine wahren Bedürfnisse hinweisen: Das Bedürfnis, dass der Reichtum des einfachen Lebens niemals im Glanz des materiellen Reichtums verblassen darf.
In 15 Minuten, die ich auf Instagram verbringe, werde ich überhäuft mit künstlich erschaffenen Bedürfnissen von außen: Werbeanzeigen, Empfehlungen und markierte Gegenstände oder Kleidungsstücke bei vertrauten Personen werden in mein Gehirn eingebrannt. Mein Kopf saugt alles auf, was mir scheinbar noch fehlt. Es ist ein Leichtes, mit künstlichen Bedürfnissen überhäuft zu werden, ihnen nachzugehen und dann irgendwann festzustellen: Jetzt habe ich alles und mir fehlt trotzdem etwas.
Spätestens dann, ist es unsere Pflicht, die unbewussten Bedürfnisse aufzudecken.
Weil mir meine Gesundheit und meine innere Ruhe wichtig sind, werde ich mich um meine wahren Bedürfnisse kümmern und mehr Passivität zulassen. Mehr Absichtslosigkeit. Mehr Aufmerksamkeit im wahren Leben.
Vielleicht schaffe ich mit diesem Beitrag ja einen Anreiz, die Augen offen zu halten und gerade auf Social Media mal bewusst darauf zu achten, welche Bilder wirklich positive Gefühle auslösen und vor allem: WARUM sie das tun.
Comments