Seit fast einem Jahr ist die wöchentliche Krabbelgruppe fester Bestandteil meines Terminkalenders und so fuhr ich auch diese Woche mit meiner Tochter zu diesem entspannten Ritual.
Dienstagmorgen, 08:30 Uhr. Es ist Ende September und das Wetter könnte nicht schöner sein. Der Herbst liegt schon seit Tagen in der Luft aber an diesem Morgen nimmt der Spätsommer nochmal richtig Fahrt auf. Wir fahren durch die Einbahnstraße, die durch unseren Ortskern führt. Auf den Fußgängerwegen machen sich die Leute auf den Weg zu ihren Jobs.
Da ist die nette Frau, die im Schuhgeschäft am Ende der Straße arbeitet. Sie hat ihre Sommergarderobe noch nicht verstaut und trägt heute mit Freude ein leichtes, buntes Kleid. Der Taxifahrer geht seiner morgendlichen Routine nach und spaziert gerade mit einem Kaffee in der Hand aus der Bäckerei, während vor der Eisdiele gerade der große Sonnenschirm geöffnet wird. Ich liebe es, wenn früh am Morgen das Leben langsam einzieht. Wenn der Tag gerade erst beginnt und nur eine Vorahnung von dem, was uns heute erwartet, in der Luft liegt.
Vor uns fährt ein schwarzes Auto (für den Hersteller hatte mein Gehirn scheinbar keine Kapazitäten mehr), das plötzlich nur noch Schritttempo fährt. Ich gehe davon aus, dass da jemand gleich einparken möchte und halte Abstand. Die Warnblinkanlage leuchtet auf und das Auto hält in der Einbahnstraße. Rechts parken Autos und ein Taxi, dessen Fahrer in Ruhe seinen Kaffee in der Sonne trinken möchte. Es gibt also keine Möglichkeit, das stehende Auto zu überholen und ich halte an, um zu warten.
Aus dem Auto steigt eine junge Dame. Sie nimmt sofort eine gebeugte Haltung ein, mit der sie mir und den Menschen hinter mir signalisiert, dass sie sich für den Stopp entschuldigt (vielleicht sogar schämt). Ihr Puls scheint zu rasen, ihre Bewegungen sind hektisch. Sie reißt den Kofferraum auf, sprintet zum Bürgersteig und schnappt sich den Rollator eines älteren Mannes, der gleich ins Auto steigen wird. Scheinbar holt da gerade eine Tochter ihren Vater oder ihren Großvater ab, der entweder beim Arzt war oder an diesem Morgen vielleicht Lust auf ein Kaffeestückchen hatte.
Während ich im Auto sitze, mich über das schöne Wetter und die Leichtigkeit, die an diesem Morgen in der Luft liegt, freue, spüre ich, wie ihr Stresspegel steigt. Ich signalisiere ihr, dass ich gerne warte und sie doucement ihre Aufgabe erledigen kann.
Der Rollator ist noch nicht ganz verstaut, da knallt sie den Kofferraum zu, hilft dem Mann auf den Beifahrersitz und rennt zur Fahrerseite, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Sie nimmt mich und die Autos hinter mir aus dem Augenwinkel wahr. Ich kann die Schweißperlen auf ihrer Stirn trotz Entfernung sehen und wieder entschuldigt sie sich mit einem Winken bei uns, die wegen ihr warten müssen.
Diese ganze Aktion dauert noch keine volle Minute und als ich weiterfahre, denke darüber nach, unter welchem Druck diese Frau gerade stand. Sicher, es gibt die Menschen, die schon beim Anblick der Warnblinkanlage ein Hupkonzert veranstaltet und nach 15 Sekunden Warten das Ordnungsamt alarmiert hätten. Solche Erfahrungen muss die Dame irgendwann einmal gemacht haben, sonst hätte sie in diesem Moment wahrscheinlich nicht so unter Strom gestanden. Und solche Erfahrungen haben wir alle schon gemacht. Ich würde behaupten, dass wir im Alltag alle immer mehr unter Druck stehen oder uns selbst unter Druck setzen. Natürlich gibt es Ausnahmen, in denen Eile absolut angebracht oder sogar lebensnotwendig ist. Wenn ich hochschwanger auf dem Weg ins Krankenhaus bin, will ich natürlich nicht warten müssen. Aber wenn ich im schlimmsten Fall einfach zu spät komme, dann ist der Fall ja gar nicht so schlimm.
Ich war kurz davor, das Fenster runter zu kurbeln und ihr "KEINE EILE" entgegen zu rufen, einfach, um ihr in diesem Moment ein bisschen vom Stress zu nehmen. Wäre sie nicht so schnell gewesen, hätte ich es noch geschafft.
Vielleicht hätte ich mich sogar bei ihr bedankt. Dafür, dass ich durch ihr Anhalten gerade dazu "gezwungen" wurde, einen Moment hier zu bleiben. Hier & Jetzt, an diesem schönen Spätsommer- oder Frühherbstmorgen und den riesigen Kastanienbäumen vor der Eisdiele lauschen durfte, deren Blätter im Wind ein Meeresrauschen nachahmten.
Danke, dass ich kurz Stehenbleiben durfte. Danke, für nicht Mal eine Minute "Innehalten" bevor es wieder weitergeht.
Wieso fällt uns das so schwer? Wieso sind so viele von uns so oft in ungesunder Eile? Wieso sehen wir in ungeplanten Wartezeiten nicht auch die Chance, das Leben, das gerade um uns herum passiert, einfach wahrzunehmen?
Neulich kam ich zum ersten Mal mit dem Begriff "Glimmer" in Kontakt, über den die Traumatherapeutin Deb Dana in ihrem Buch "Die Polyvagal-Theorie in der Therapie" schreibt. Ein Glimmer ist quasi das Gegenteil von einem Trigger, also einem Reiz, der einen wunden Punkt trifft und ein traumatisches Erlebnis oder eine Erinnerung an eine negative Erfahrung in uns aufruft.
Glimmer sind die kleinen Momente des Glücks, wobei dieses Glücksgefühl jede/r für sich selbst interpretiert.
»THE SMALL MOMENTS THAT BRING YOU JOY, SAFETY, AND CONNECTION.« (Deb Dana)
So wie Trigger akute Stressreaktionen in unserem Körper auslösen, können Glimmer das Gegenteil erzeugen. Momente des Glücks, der Freude, des Wohlbefindens regulieren das Nervensystem und lassen innere Ruhe einkehren.
Die Voraussetzung ist: Wir müssen diese Momente bewusst wahrnehmen. Offen sein für unsere persönlichen Glimmer. Dazu führt meiner Meinung nach kein Weg an etwas mehr Langsamkeit vorbei. Mal kurz innehalten, im Moment bleiben, hier bleiben und dem Geschehen mit einer offenen und freundlichen Haltung begegnen. Achtsamkeit. Statt mich über die Zwangspause zu beschweren, über den Moment des "Nichts-tun-Könnens" erleichtert sein. Leichtigkeit statt Schwere.
Dank der kurzen Verzögerung war mein Morgen in dieser einen Minuten vollgepackt mit Glimmern, die sich ganz sicher positiv auf den weiteren Verlauf ausgewirkt haben.
Dem Licht, dass durch die Bäume fällt, kurz dabei zuschauen, wie es auf dem Asphalt und den Hausfassaden tanzt.
Die nette Schuhverkäuferin in ihrem Sommerkleid bewundern und mich mit ihr freuen, dass sie es heute tragen kann.
Den Geruch der Bäckerei, durch den Spalt des Autofensters wahrnehmen.
...
Es gibt so viele kleine Dinge, über die wir uns freuen können, die uns kurz zur Ruhe bringen oder ein Lächeln schenken. Für die es sich lohnt, auch mal langsamer zu werden.
Oder wie Gabriele Arnim in ihrem Buch »Der Trost der Schönheit« schreibt:
»Die Schönheit eines Moments wahrnehmen und für den einen Moment froh sein. Heilfroh sein. Frohsein heilt.«
Auf viele Tage voller Glimmer und heilfrohen Momenten.
Danke fürs Lesen, Danke fürs Dasein!
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