Nach über zwei Jahren fühle ich mich bereit, über ein Thema zu sprechen, dass mir immer wichtig bleiben wird. Ich erzähle meine persönliche Geschichte und teile meine persönlichen Erfahrungen. Es war meine einzige Fehlgeburt und ich erzähle hier aus meiner Sicht. Das hier sollen keine Ratschläge für deinen persönlichen Umgang mit deiner persönlichen Erfahrung sein.
Aber vielleicht können meine Gedanken als Funken der Hoffnung dienen.
ALLES IST OK.
Herbst, 2022
Der Tag war von Beginn an irgendwie komisch. Ein grauer Tag im Spätherbst.
Ich kam gerade in die nächste Schwangerschaftswoche und zur Feier des Tages kaufte ich ein Spielzeug, das mir irgendwie dabei half, an einen guten Verlauf zu glauben. Ein Beweisstück sozusagen: "Siehst Du! Das habe ich gekauft! Weil ich fest daran glaube, dass alles gut wird!"
Der Tag verlief schleppend, irgendwie melancholisch und am Nachmittag beruhigte mich meine App, dass solche Emotionen ganz normal sind.
Es fing an zu regnen.
Ein paar Stunden später stand ich mit meinem Mutterpass an der Anmeldung zur gynäkologischen Notaufnahme. Da Corona noch präsent war, musste mein Mann draußen warten.
Vor mir lies sich gerade ein älterer Herr wegen Schmerzen im Bein einweisen, die er an der Rezeption per Schmerzskala bewerten sollte. Er ließ sich Zeit und gab den Schmerzen eine 3 von 10. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich hielt die Ungewissheit nicht mehr aus. Es waren die schlimmsten drei Minuten Wartezeit meines Lebens.
Eine halbe Stunde später stand ich weinend auf dem Gang und wartete auf den Aufzug. Den Mutterpass fest an meine Brust gedrückt. Und dann fiel ich meinem Mann in die Arme. Nun war ich Teil der Statistik, vor der ich mich immer gefürchtet und gehofft habe, dass sie mich nicht betreffen wird.
Die darauffolgenden Tage, Wochen und Monate waren für mich mit nichts zu vergleichen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gespürt, was es bedeutet, keine Kontrolle zu haben. Nichts festhalten zu können. Ein Ergebnis nicht beeinflussen zu können. In keinster Weise auch nur irgendetwas an dem Ende dieses Kapitels ändern zu können.
Ich habe geweint. Wir haben geweint. Und geweint. Und geweint. Und geweint...
Rückblickend war diese Zeit, in der ich mich all meinen Emotionen hingegeben habe, der erste Schritt in meine Stärke, wenngleich ich mich in dieser Zeit alles andere als stark gefühlt habe.
Ich war verletzt, ich war schwach, ich war in Trauer.
Auch heute noch kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke und vielleicht wird das immer so sein, denn Verletzlichkeit wohnt uns Menschen immer inne.
Mit der Zeit habe ich gelernt, aus meiner Schwäche zurück in meine Stärke zu kommen - wobei ich das Wort Stärke in diesem Fall gerne genauer beschreiben würde: Ich meine damit nicht, dass es keine Phasen gibt, in denen ich traurig bin oder beim Erinnern an diese Zeit Tränen verliere. Das Gefühl jedoch ist ein anderes. Das Gefühl der Akzeptanz, des Vertrauens und das Gefühl, vielleicht sogar einen Sinn in dieser Erfahrung gefunden zu haben, sind jetzt stark genug.
Ein paar entscheidende Faktoren haben mir dabei geholfen.
VERBINDUNG
Üblicherweise schließe ich mich mit meinen Emotionen ein.
Rückzug ist für mich ein wichtiger Bestandteil des Verarbeitens.
Ich hatte aber schnell das Bedürfnis, mit einer Freundin zu sprechen, die die gleiche Erfahrung gemacht hatte. Ich wusste, dass es bei ihr lange her und sie nicht mehr in Trauer war. Wir redeten, sie ließ mich weinen, sie war da.
Ich verbrachte stundenlang in Foren und las mir die Geschichten anderer Frauen durch. Hörte Podcasts, in denen über ähnliche Erfahrungen gesprochen wurde las das Buch »Jede 3. Frau«, in dem 25 Frauen über ihre Schwangerschaften ohne Happy End und wie sie trotzdem ihren Weg gefunden haben, berichten.
Mein Mann war ohne Ablenkung an meiner Seite. Er war mein Anker, obwohl es ihn ebenso betraf wie mich. Er war einfach da, mit seinen eigenen Emotionen, seinen eigenen Tränen, einfach da.
Das wäre auch mein persönlicher Tipp an diejenigen, die in solchen Zeiten helfen wollen. Einfach da zu sein. Gerade am Anfang braucht es keine Ratschläge, Tipps für den nächsten Versuch oder spätere "Erfolgsgeschichten" anderer Frauen.
In dieser ersten ganz sensiblen Zeit, den ersten Stunden und Tagen ist es das Wichtigste, da zu sein und der Frau das Gefühl zu geben, einen Raum für all ihren Schmerz zu öffnen, in dem sie nicht alleine ist.
Das Gefühl, nicht allein zu sein, war mein persönlicher Halt. Durch die Geschichten anderer Frauen fühlte ich mich umarmt, beschützt und verbunden.
Ganz gleich welches Schicksal man durchlebt, das Gefühl der Verbundenheit ist essenziell.
Ich glaube, wir müssen in solchen Phasen unsere vollständige Verletzlichkeit leben, ihr erlauben, da zu sein und alle Gefühle und Emotionen annehmen und das kann vor allem dann gelingen, wenn man Verbindung zu anderen Menschen zulässt.
EINE FEHLGEBURT VERSTEHEN
Natürlich gibt es Faktoren, die wir beeinflussen können und auch sollten, wenn wir schwanger sind. Darum soll es hier nicht gehen.
Denn es gibt ebenso viele verschiedene unbeeinflussbare Gründe für eine Fehlgeburt, über die wir keine Kontrolle haben. Diese Kontrolle nicht zu haben, war eine meiner größten Herausforderungen. Ich habe meine Ernährung, meinen Umgang mit Stress, meinen Hormonspiegel, ja sogar meine Gebärmutter hinterfragt. Ich wollte unbedingt einen "Fehler im System" finden, den ich reparieren kann. Kontrolle haben.
Meine Ärztin sagte damals einen Satz, der im ersten Moment vielleicht absurd klingen mag, meine Akzeptanz aber bis heute prägt:
Eine Fehlgeburt ist eine gesunde Reaktion des Körpers auf einen Fehler in der Schwangerschaft.
DEM KÖRPER DANKEN
Das war der Moment, in dem ich die Kontrolle endlich loslassen und die Erfahrung akzeptieren konnte. Es war schwer und gleichzeitig erleichternd.
Ich verspürte eine Dankbarkeit zu meinem Körper und änderte meinen Fokus.
Krass, meine Seele leidet die ganze Zeit und ich kümmere mich nur um sie - aber da ist ja noch jemand im Spiel: Mein Körper.
Was hat mein Körper in den letzten Monaten eigentlich durchgemacht?
Was hat mein Körper in den letzten Monaten für mich geleistet?
Er funktioniert einfach weiter, legt keine Pause ein, er hält mich am leben.
Wow. Danke, Körper.
Ich vertraue darauf, dass es einen wichtigen Grund für das frühzeitige Ende gab.
Das Gefühl, Freundschaft mit meinem Körper zu schließen und ihn zukünftig bewusster zu unterstützen, hat mich zu meiner inneren Stärke gebracht. Plötzlich ist da Vertrauen, auch in die Schattenseiten, auch in den Schmerz.
Mein Körper als Komplize.
MEINEN EIGENEN RHYHTMUS FINDEN
Wann, wie und in welcher Art und Weise ich zurück in meinen Alltag gekommen bin, habe ich selbst entschieden. Mich zum Aufraffen zu zwingen oder gute Miene zu machen, kam überhaupt nicht in Frage. Das erste Mal nach dieser Erfahrung vor die Tür zu gehen, war ein seltsamer Moment, denn während meine Welt stillstand, drehte sich die Welt da draußen weiter. Das zu erkennen, war schmerzhaft und gleichzeitig lag darin auch Hoffnung. Die Hoffnung, dass ich wieder einsteigen kann, wenn ich soweit bin. Die Welt da draußen wartet. Mal waren meine Schritte größer und mal wieder kleiner. Meinem eigenen Rhythmus zu folgen hat mir dabei geholfen, in mein Selbstvertrauen zu kommen.
EIN BESONDERER GEDANKE
Die Hebamme, die mich damals begleitete, hat mir einen besonderen Perspektivwechsel ermöglicht.
Sie sagte, dass es da draußen viele kleine Seelen gibt, die ihr Leben schon hinter sich und nie Liebe erfahren haben. Sie kommen noch einmal zurück, um das Gefühl von Liebe zu spüren. Manche Seelen wollen mit diesem Gefühl wieder geboren werden und bleiben eine Weile und manche Seelen können loslassen, sobald sie Liebe bekommen haben. Ab dem Zeitpunkt des positiven Schwangerschaftstests hat unsere kleine Seele die Liebe, die wir für sie hatten, gespürt und nach ein paar Wochen war ihr Tank gefüllt. Sie wollte bloß einmal Liebe erfahren, hat sie bekommen und konnte in Frieden und Dankbarkeit gehen.
Noch heute muss ich weinen, wenn ich an diese Worte denke und ich teile sie, in der Hoffnung, dass sie jemandem den Halt geben, den sie mir gegeben haben.
Nach der Fehlgeburt wurde mir bewusst, wie viele Frauen (und Väter) diese Erfahrung teilen und wie wenig darüber gesprochen wird. Allein 2021 ließen sich rund 40.000 Fehlgeburten registrieren - die Dunkelziffer wird wesentlich höher sein.
Es ist OK, sich bewusst dafür zu entscheiden, dass es ein persönliches "Tabuthema" bleibt.
Es ist nicht OK, das Gefühl zu haben, nicht darüber sprechen zu können, wenn man sich eigentlich danach sehnt.
Dann sprich darüber. Greif nach den Händen, die dir Halt geben und schenke dir vor allem immer wieder selbst eine Umarmung. Die kleine Seele hat ihre Liebe bekommen.
Ich danke dir, kleine Seele, denn ohne dich gäbe es unsere Tochter heute nicht.
Hinterm Nebel wartet klare Sicht.
Auf Schatten folgt Licht.
Empfehlungen
Bücher:
Jede dritte Frau, Natascha Sagorski
Gute Reise, kleiner Stern, Jan Hendrix Alt, von einem Papa für alle Sternenkind-Eltern, Verwandte und Freunde
Podcasts:
Fehlgeburt - Wir müssen reden, Marie Nasemann & Sebastian Tigges
Wie ist es, eine Fehlgeburt zu haben? , Im Namen der Hose
Aufklärung, Unterstützung und Begleitung: https://sternenelternsaarland.de/
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